Unsere Apotheke der Natur ist in Gefahr. In natürlichen Heilpflanzen steckt viel unerforschtes Potenzial für die Entwicklung von Medizin. Forschende warnen, dass ein Teil dieses Potenzials für immer verlorengehen könnte.
Die Hälfte der in den vergangenen vier Jahrzehnten weltweit zugelassenen Medikamente basiert auf den Inhaltsstoffen medizinischer Pflanzen oder sei nach ihrem Vorbild entwickelt worden. Auch das traditionelle Schmerzmittel Morphium stammt aus einer Pflanze, dem Schlafmohn. Salicylsäure wurde früher aus der Rinde von Weiden gewonnen und steckt heute technisch hergestellt und leicht verändert unter anderem in Aspirin.
Viel unerforschtes Potenzial
Die Wissenschaft will die Erforschung von Heilpflanzen systematisch vorantreiben. Damit könne die medizinische Versorgung der Menschheit gesichert werden, schreibt die Gruppe um Spyros Theodoridis vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum Frankfurt im Fachjournal „The Lancet Planetary Health“.
„Von 374.000 bekannten Pflanzenarten sind bisher gerade einmal sechs Prozent untersucht.“
„Heilpflanzen und ihre bioaktiven Stoffe bieten enorme Möglichkeiten für die zukünftige medizinische Versorgung der Menschheit. Als eine naturbasierte, kostengünstige und effiziente Gesundheitsressource. Aber unser Wissen über sie ist immer noch ausschnitthaft“, erläutert Theodoridis. „Von etwa 374.000 bekannten Pflanzenarten sind bisher nur 15 Prozent chemisch analysiert. Und gerade einmal sechs Prozent wurden unter pharmakologischen Gesichtspunkten untersucht.“
Schnelle Fortschritte in der Forschung
In den letzten Jahren habe das Interesse an Heilpflanzen durch neue Analyseverfahren erneut zugenommen. Die schnellen Entwicklungen auf den Gebieten der Erforschung von Stoffwechselprodukten und der Genanalyse eröffneten neue Möglichkeiten. So konnten zum Beispiel im Erbgut der Eibe jene Gene identifiziert werden, die für die Synthese des Stoffs Paclitaxel verantwortlich sind, einem wichtigen Krebsmedikament.
Pflanzenarten vor dem Aussterben
Gleichzeitig seien aber traditionelle, ebenso wie noch unbekannte Heilpflanzen durch den Einfluss des Menschen bedroht. Bewährte Gewächse wie die Sideritis-Arten, die als griechischer Bergtee unter anderem bei Erkältungen angewendet werden, stünden durch übermäßiges Sammeln vor dem Aussterben. Zudem bedroht die Klima- und Biodiversitätskrise ganze Ökosysteme. „Die bioaktiven Pflanzenstoffe, die wir als Heilmittel einsetzen, erfüllen in der Natur spezifische Aufgaben in der Interaktion von Pflanze und Ökosystem – von der Bestäubung bis zur Bodenqualität“, erklärt Co-Autor David Nogués Bravo vom Center for Macroecology, Evolution and Climate der Universität Kopenhagen. „Extreme Temperaturen, Dürreperioden und eine erhöhte CO2-Konzentration in der Atmosphäre können dieses komplexe Zusammenspiel stören.“ Klima-und Biodiversitätsforschung müssten zusammenarbeiten, um geeignete Schutzkonzepte zu schaffen.
Am Beispiel von Europa haben die Forschenden eine Reihe von Indikatoren entwickelt, um das Potenzial für Heilpflanzen sowie deren Gefährdung zu erfassen. Besonders stachen hier die Mittelmeerregion und polarnahe Gebiete hervor. „Unser Ziel ist es, Anstöße für die transdisziplinäre globale Erforschung von medizinischen Pflanzen zu geben. So können wir in der Zukunft nichts weniger als eine nachhaltige Transformation der weltweiten Gesundheitsversorgung erreichen und die „medizinische Biodiversität“ für kommende Generationen sichern“, fasste Theodoridis zusammen. (Red/APA)