Es ist eine schonungslose Analyse der aktuellen EU-Flüchtlingspolitik. Der Migrationsexperte Gerald Knaus zeigt in seinem Buch „Wir und die Flüchtlinge“, wieso die EU-Außengrenze die tödlichste der Welt ist, warum Staatsorgane Flüchtlinge misshandeln und wie eine andere, humane Politik möglich ist.
17 Stunden lang haben die Staats- und Regierungschef:innen der 27 EU-Staaten beim Sondergipfel in Brüssel diskutiert. Nicht nur, aber auch über das Thema Flucht und Flüchtlinge. Am Ende steht nun ein Kompromiss, der sich vermutlich schwer politisch umsetzen lässt. Im Grunde ist es die alte Leier: den Kampf gegen irreguläre Migration verschärfen, stärker gegen Schlepper:innen vorgehen und den Druck auf Drittländer bei Rückführungen erhöhen. Es hätte wohl nicht geschadet, wenn so manch ein:e Teilnehmer:in als Vorbereitung auf den Gipfel in Brüssel „Wir und die Flüchtlinge“ von Gerald Knaus gelesen hätte. Der Migrationsexperte entwirft darin eine „realistische Utopie“, wie die europäische Asyl- und Migrationspolitik ohne Gewalt und unter Einhaltung der Grund- und Menschenrechte funktionieren kann.
Tägliche Gewalt
Doch bevor Knaus zu seiner Utopie kommt, liefert er eine schonungslose Analyse der aktuellen Politik. An den EU-Außengrenzen wird täglich das Recht von Flüchtlingen gebrochen und Gewalt gegen sie angewendet. Menschen ertrinken im Mittelmeer und werden an den Grenzen von Staatsorganen wie Polizist:innen und Soldat:innen misshandelt. Sie werden als politische Waffen instrumentalisiert – vom belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko, um die EU zu destabilisieren und von europäischen Populist:innen, um Angst vor einer „unkontrollierten Massenmigration“ zu schüren. Das geschieht vor unseren Augen. Journalist:innen werden nicht müde, diese Missstände aufzuzeigen. Doch die EU-Regierungen äußern kaum noch Kritik daran, dass Gewalt gegen Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen angewendet wird. Das untermauert Knaus mit Zitaten von Politiker:innen europäischer Länder. Und die Bürger:innen der EU gewöhnen sich immer mehr an diese Schreckensnachrichten.
Widersprüche zwischen Wahrnehmung und Realität
Wahrnehmung und Realität stimmen nicht immer überein. Auch das lernt man, wenn man „Wir und die Flüchtlinge“ liest. Ein Beispiel ist Österreich, das zwischen 2018 und 2021 nach Griechenland die meisten Flüchtlinge anerkannt hat. In Zahlen: 56.000. Und das, obwohl der damalige Bundeskanzler Sebastian Kurz mit geschlossenen Grenzen null illegale Migration noch Europa erreichen wollte. Knaus erklärt in seinem Buch, wie dieser Widerspruch möglich ist und gerade das Beispiel Österreich eine „ermutigende Botschaft“ sein kann.
Es braucht eine neue Diskussion
Beim Lesen drängen sich viele Fragen auf. Zum Beispiel, was es mit Demokratien macht, wenn zum Bruch von Menschenrechten und Misshandlungen von Flüchtlingen durch Staatsorgane geschwiegen wird. Oder was es braucht, damit die Politik die Gewalt an den EU-Außengrenzen nicht mehr länger akzeptiert. Die Antwort darauf ist Knaus‘ „realistische Utopie“. Dafür braucht es eine andere Diskussion. Eine Diskussion, in der es nicht nur um die Flüchtlinge und ihre Herkunftsländer geht, sondern auch um uns als europäische Gesellschaft. Denn es ist unsere Rechtsstaatlichkeit, die sich in der Krise befindet. Und es geht um die Grund- und Menschenrechte aller, die auf dem Spiel stehen. Die Mitgliedsstaaten der EU sowie die Drittstaaten, aus denen die Menschen nach Europa flüchten, müssen ebenso Teil der Diskussion sein wie die Einstellung der europäischen Gesellschaft zu Flucht und Flüchtlingen, Abschiebungen bei negativen Bescheiden und legale Mobilität.
Es muss sich jetzt etwas ändern
Knaus‘ Analyse endet in einem Plädoyer für eine humane Asyl- und Migrationspolitik. Damit die europäische Außengrenze nicht mehr länger die tödlichste Grenze der Welt ist. Und trotz all der Grausamkeit, die Knaus in seinem Buch zusammengetragen hat, bleibt am Ende ein bisschen Mut. Mut, dass sich etwas ändern kann. Denn er zeigt auf, wie das möglich ist. Er gibt den Politiker:innen im Grunde eine Handlungsanleitung. „Jede entwickelte Demokratie verkraftet es, im Jahr 1.500 Flüchtlinge pro eine Million Einwohnerinnen und Einwohner aufzunehmen, wenn dies organisiert und kontrolliert verläuft. Das zu erreichen, ist eine realistische Utopie“, ist sich Knaus sicher. Doch dafür muss die Politik jetzt damit beginnen, etwas zu ändern.
„Wir und die Flüchtlinge“ von Gerald Knaus ist 2022 im Brandstätter Verlag erschienen.