Die Welt ist für Männer gemacht. Denn es fehlen wichtige Daten in nahezu allen Lebensbereichen. Nämlich jene von Frauen. Besonders deutlich wird das in der Medizin. Jahrhundertelang hat sich die medizinische Forschung am männlichen Körper orientiert. Das hat Folgen bis heute.
Dein Gegenüber klagt über Schwindel und kann nicht mehr so gut sehen. Du tust dir schwer, zu verstehen, was es sagt, die linke Gesichtshälfte wirkt wie gelähmt. Als Lai:in vermutest du wahrscheinlich einen Schlaganfall und rufst einen Krankenwagen. Wahrscheinlich ist dein Gegenüber ein Mann. Denn bei Frauen und weiblich gelesenen Personen zeigen sich meist andere Symptome. Sie haben Kopf- und Gliederschmerzen, ihnen ist übel. Könnte auch eine sich anbahnende Grippe sein. Oder ein schwacher Kreislauf. Das Problem: Nicht nur du als Lai:in hast Schwierigkeiten, das zu erkennen. Auch Mediziner:innen schließen von diesen Symptomen nicht immer auf einen Schlaganfall. Für Frauen bedeutet das, dass sie länger auf eine richtige Diagnose und eine entsprechende Behandlung warten müssen. Das kann mitunter tödlich enden.
Der männliche Körper als Norm
Dieses Phänomen hat einen Namen: Gender Data Gap. Es fehlen aussagekräftige Daten zu Frauen und weiblich gelesenen Personen (Menschen werden aufgrund biologischer Merkmals als Frauen gesehen, fühlen sich aber nicht als Frau), aber auch zu Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe, mit Behinderungen und zu Minderheiten. Daten fehlen in vielen Gesellschaftsbereichen. Darunter eben auch in der Medizin. Über Jahrhunderte hinweg galt das als medizinische Norm, was am männlichen Körper erforscht wurde. Forschung am weiblich gelesenen Körper wurde vernachlässigt beziehungsweise gar nicht erst durchgeführt. Dass sich Krankheiten bei Frauen und weiblich gelesenen Personen anders zeigen und Medikamente unterschiedlich wirken, war lange kein Thema.
„Noch immer sind solche Geschlechtermythen als Vorurteile tief verwurzelt und stehen der Versorgung, Behandlung und Diagnosen aller Menschen, die sich als Frauen begreifen, im Wege.“
Wenn sich Mediziner:innen mit Frauen und weiblich gelesenen Personen beschäftigt haben, dann in erster Linie mit ihrer reproduktiven Gesundheit. Die Gebärmutter wurde jedoch nicht nur als Ort, in dem Föten heranwachsen, betrachtet, sondern auch als Hort von Krankheiten und Störungen. So entstand beispielsweise das Bild der hysterischen Frau. Der Hysterie beschuldigt wurden zum Beispiel Frauen, die über Symptome klagten, die einer Endometriose entsprechen. Zum Beispiel qualvolle Becken-, Rücken- und Bauchschmerzen, Beschwerden beim Geschlechtsverkehr und Blutungen. Ende der 1940er Jahre wurde behauptet, typische Endometriose-Kranke wären weiße, überdurchschnittlich gebildete sowie sozial und wirtschaftlich privilegierte junge Frauen. Ihnen wurde unterstellt, sich dem Kinderkriegen zu widersetzen. Bis in die 1970er Jahre nahm man sogar an, Schwarze Frauen könnten nicht an Endometriose leiden. Die Folgen waren Fehldiagnosen. Diese und noch viel mehr Abscheulichkeiten der Medizingeschichte hat die Autorin und Feministin Elinor Cleghorn in ihrem Buch „Die kranke Frau“ zusammengetragen.
Medikamente überwiegend an Männern getestet
„Noch immer sind solche Geschlechtermythen als Vorurteile tief verwurzelt und stehen der Versorgung, Behandlung und Diagnose aller Menschen, die sich als Frauen begreifen, im Wege“, schreibt Cleghorn. In medizinischen Lehrbüchern finden sich immer noch überwiegend Illustrationen von weißen, männlichen Körpern. Medikamente und deren Dosierung werden bis heute überwiegend an männlichen Probanden getestet. Und männliche Wissenschaftler beziehen seltener geschlechtsspezifische Analysen in ihre Forschung ein. Das führt unter anderem zu folgendem Ergebnis einer Studie an 1,3 Millionen Patient:innen in Kanada: Frauen, die von einem Mann operiert werden, haben ein 32 Prozent höheres Risiko, zu sterben, Komplikationen zu erleiden und erneut in ein Krankenhaus eingewiesen zu werden.
Erster Frauengesundheitsbericht seit 2011
Sinnbild für die schlechte Datenlage ist auch der jüngste Frauengesundheitsbericht. Dieser wurde heuer erstmals seit 2011 wieder vom Gesundheitsministerium herausgegeben. Allein das zeigt bereits, welche Priorität weiblichen Gesundheitsdaten in der Vergangenheit eingeräumt wurden: kaum eine. Das spiegelt sich auch im Bericht wider. Bereits in der Einleitung halten die Expert:innen fest, dass viele Daten gefehlt haben, nicht repräsentativ oder schwer zugänglich waren. Zum Teil mussten sie daher auf Daten aus dem Ausland zurückgreifen.
Der weibliche Körper ist komplex
Doch warum gibt es so wenige Daten von Frauen? Der Grund, warum viele Medikamente bei Frauen anders wirken als bei Männern, ist auch der Grund, warum weniger Frauen in klinische Studien miteinbezogen werden. Ihr Körper funktioniert komplexer als jener von Männern. Mit dem Menstruationszyklus, den Wechseljahren, Schwangerschaften und der Verwendung von Verhütungsmitteln gehen hormonelle Schwankungen einher. Das führt dazu, dass sie Medikamente unterschiedlich gut vertragen – und Studienergebnisse schwieriger zu vergleichen sind. Für Forscher:innen ist es also einfacher, Medikamente nur an Männern zu testen. Ein tragisches Beispiel ist der Contergan-Skandal in den 1950er Jahren. Das Beruhigungsmittel Contergan galt als unbedenklich für schwangere Frauen. Doch es traten vermehrt schwere Fehlbildungen oder gar das Fehlen von Gliedmaßen und Organen bei Neugeborenen auf, die letztlich auf das Medikament zurückgeführt werden konnte. Weltweit kamen 5.000 bis 10.000 geschädigte Kinder auf die Welt.
Forschung muss alle relevanten Gruppen einschließen
Der Contergan-Skandal macht deutlich, wie wichtig es ist, dass unterschiedlichste Gruppen in die Forschung miteinbezogen werden. 2022 hat die EU eine repräsentative Geschlechter- und Altersgruppenverteilung in klinischen Forschungen eingeführt. Das Verhältnis soll sich daran orientieren, wie sich die Krankheit auf die Geschlechter verteilt. Richtet sich das Medikament also vor allem an Frauen, soll das Medikament auch in erster Linie an Frauen getestet werden.
Auch im Frauengesundheitsbericht wird kritisiert, dass für eine gute Gesundheitsversorgung noch mehr Daten gesammelt werden müssen, die sich explizit mit der Gesundheit von Frauen auseinandersetzen. Um das zu ändern, wurde vom Gesundheitsministerium bereits eine Studie zur Menstruationsgesundheit in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse sollen Ende des Jahres vorliegen. Eine weitere Studie beschäftigt sich derzeit mit kostenfreien Verhütungsmitteln.
Nach dem Wissen handeln
Der Zugang zu guter medizinischer Versorgung und lebensrettenden Medikamenten für alle Menschen ist eines der 17 UN-Nachhaltigkeitsziele. Um das zu erreichen, muss anerkannt werden, dass sich die Gesundheitsthemen von Frauen und Männern unterscheiden. „Die Medizin muss dem, was wir über unseren Körper berichten, Gehör und Glauben schenken und Kraft, Zeit und Geld darauf verwenden, die ungeklärten medizinischen Rätsel unserer Krankheiten endlich zu lösen. Die Antworten liegen im weiblichen Körper und in den Geschichten, die er schon immer geschrieben hat“, hält Autorin Elinor Cleghorn in ihrem Buch fest. Dieses Wissen muss in die Forschung und Behandlung einfließen. Denn nur so können Frauen die bestmögliche Gesundheitsversorgung erhalten – und zum Beispiel der Schlaganfall einer Frau schneller erkannt werden.