Viele weiße Schafe auf der Mahü

Die Wiener Mariahilferstraße feiert ihren achten Geburtstag – und mit ihr auch das Konzept der Begegnungszone. Autos, Räder und Fußgänger:innen zusammen auf einer Verkehrsfläche. Wo viele das große Chaos heraufbeschworen haben, herrscht heute ein gemeinsames Miteinander. Die Mahü stellt uns Menschen ein gutes Zeugnis aus. Wir kooperieren und nehmen Rücksicht im Verkehr – sofern die Straße uns lässt.

Es gibt weniger schwarze Schafe im Verkehr, als wir denken. Die allermeisten von uns nehmen Rücksicht auf andere, wenn wir auf der Straße sind. Egal ob wir am Rad sitzen, zu Fuß gehen oder Auto fahren, wir wollen zwar zügig von A nach B kommen. Aber auf unserem Weg möchten wir per se niemanden behindern oder gar schaden. Der Mensch ist ein kooperatives Geschöpf, auch wenn wir uns diese Eigenschaft oft aberkennen.

Der Mensch ist eine kooperative Spezies

Tatsächlich sind wir sogar die kooperativste Spezies auf diesem Planeten. Wir können besser im Team arbeiten als jedes andere Tier, wir können gerecht teilen und sind bereit anderen Menschen zu helfen, selbst wenn es uns nicht direkt nützt. Ein Blick in die Wiener Mariahilferstraße genügt, um das zu bestätigen.

Zehntausende Menschen teilen sich täglich diese vergleichsweise kleine Verkehrsfläche. Sie bewegen sich mit und ohne Gefährt, biegen nach links und rechts, weichen aus und bremsen. Würden ähnlich viele Individuen einer anderen Spezies auf so einem engen Raum zusammentreffen, würde Chaos ausbrechen. Nicht bei uns Menschen, wir kooperieren.

Das Auto erschwert die Kooperation

Damit wir unser einzigartiges Talent zur Kooperation ausspielen können, müssen wir aber miteinander kommunizieren können. Wir sprechen uns mit Handzeichen ab, tauschen Blicke aus, rufen uns etwas zu. In einer Begegnungszone funktioniert das, auf normalen Straßen nicht.

Wenn die Mehrheit der Verkehrsteilnehmer:innen in Fahrzeugen sitzt, wird es schwer mit der Kommunikation. Dann brauchen wir Ampeln, Gehsteige sowie eine Fülle an Verkehrsregeln.

Die Stärke einer Begegnungszone

In einer Begegnungszone sind Fußgänger:innen, Radfahrer:innen und Autolenker:innen nicht voneinander getrennt, sondern alle auf derselben Verkehrsfläche unterwegs. Alle teilen sich eine Straße. Das ist nicht etwa die Schwäche dieses Verkehrskonzeptes, sondern seine Stärke.

Denn wer sich etwas teilt, muss sich absprechen und Rücksicht nehmen. Und wir erinnern uns: Das kann die Spezies Mensch. Das Kommunizieren klappt in einer Begegnungszone sogar mit Autolenker:innen, weil sie hier mit höchstens 20 km/h fahren. Wer zu Fuß geht oder am Rad sitzt, kann so Blickkontakt mit jemanden in einem Fahrzeug aufnehmen.

Warum wir so viel schwarzen Schafe sehen

Also Friede, Freude, Eierkuchen, alle Menschen kooperieren? Natürlich nicht. Wir wissen aus unserem Alltag, dass es nicht immer rund läuft, wenn Menschen aufeinandertreffen. Es gibt sie, die schwarzen Schafe. Menschen, die sich im Verkehr egoistisch und rücksichtslos verhalten.

Aber sie sind in der Minderheit. Dass sie uns trotzdem so besonders auffallen, liegt wieder im menschlichen Wesen begründet. Wir haben ein Faible für das Negative. Die Psychologie spricht von der Negativitätsdominanz. Ungute Erlebnisse wirken sich psychisch stärker aus als positive Erlebnisse  – und bleiben uns so besser in Erinnerung.

Werden wir am Weg zur Arbeit von jemanden rücksichtslos überholt, brennt sich dieses Erlebnis tiefer ein als das Aufeinandertreffen mit den 50 anderen Menschen, die sich rücksichtsvoll verhalten haben. Die Negativdominanz war in unserer frühen Vergangenheit praktisch und hat unseren Vorfahren das Leben gerettet. Heute führt es unter anderem dazu, dass wir im Verkehr mehr schwarze Schafe sehen, als da sind.

Die Mahü verzeiht mehr Fehler als andere Straßen

Und nicht jede:r, der sich vermeintlich rücksichtslos verhält, ist gleich ein schwarzes Schaf. Menschen machen Fehler – im Verkehr genauso wie in allen anderen Lebensbereichen. Das müssen wir so hinnehmen, nicht die beste Verkehrsregel kann jeden Fehler vorbeugen. Im Gegenteil: Auf einer Straße, in der Rücksichtnahme das oberste Prinzip ist, können wir die Fehler unseres Gegenübers besser ausgleichen – und sie unsere.

Weniger Unfälle seit der Neugestaltung

Fehler im Verkehr enden besonders dort fatal, wo wir mit hoher Geschwindigkeit unterwegs sind. Da überrascht es nicht, dass die Anzahl an Unfällen mit Personenschaden auf der Mariahilferstraße deutlich zurückgegangen ist, seit sie neugestaltet wurde. Im letzten Jahr vor dem Umbau gab es 51 Unfälle mit Personenschaden. Seitdem die Mariahilferstraße eine Begegnungszone ist, gibt es im Schnitt 12 Unfälle pro Jahr. Ein beachtlicher Rückgang von 76 Prozent. Begegnungszonen sind sicherer für alle.

Vor dem Auto waren alle Straßen Begegnungszonen

Das Prinzip der Rücksichtnahme im Verkehr funktioniert. Das zeigt uns nicht nur die Wiener Mariahilferstraße, sondern auch die vielen anderen Begegnungszonen in ganz Österreich, die in ihrem Windschatten entstanden sind. Wirklich verwunderlich ist das nicht. Der Mensch ist Meister im Kooperieren.

Das konnten wir schon lange, bevor das Wort Begegnungszone erfunden war. Bis zur massenhaften Verbreitung des Autos waren alle Straßen Begegnungszonen. Lässt es die Straße zu, dann regeln wir uns selbst und nehmen Rücksicht. Nicht jede:r, aber fast jede:r. Oder anders gesagt: Die allermeisten von uns sind weiße Schafe im Verkehr, keine schwarzen. Das sollten wir uns regelmäßig in Erinnerung rufen.

Über die/den Autor:In

Markus Englisch
Markus Englisch
Markus studierte TV- und Medienproduktion in Wien. Sein größter Antrieb als Journalist ist es, die Klimakrise für alle Menschen begreifbar zu machen. Zuletzt war er als Redakteur bei PULS 4 tätig und leitete das Nachhaltigkeitsmagazin KLIMAHELDiNNEN.

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