Mit dem Fahrrad aus der Arbeitslosigkeit

Mit Fahrrädern Langzeitbeschäftigungslosigkeit bekämpfen? Das geht. Die Radstation am Hauptbahnhof ist ein soziales Unternehmen, das Menschen, die am Arbeitsmarkt benachteiligt werden, eine Beschäftigung auf Zeit bietet. Sie werden qualifiziert und bei Problemen unterstützt.

Mit Fahrrädern hatte Wilfried R. bisher beruflich nichts zu tun. Er war jahrelang für die Büroleitung einer Arztpraxis zuständig. Bis der Arzt beschlossen hat, seine Praxis nach Ungarn zu verlegen. „Ich habe sogar noch die ungarischen Mitarbeiter eingeschult“, erzählt er. Behalten wurde er nicht, aufgrund der Entfernung hätte das aber wahrscheinlich ohnehin nicht funktioniert, meint er. Daraufhin war er ungefähr ein Jahr arbeitslos, bevor er in der Radstation am Hauptbahnhof zu arbeiten begonnen hat.

Für Arbeitsmarkt qualifiziert

Dass er dort einen Arbeitsplatz bekommen hat, ist kein Zufall. Denn die Radstation ist ein soziales Unternehmen. Die Aufgabe: Menschen, die am Arbeitsmarkt benachteiligt werden, für einen bestimmten Zeitraum zu beschäftigen. Soziale Unternehmen wie die Radstation bewegen sich am sogenannten zweiten Arbeitsmarkt. Das bedeutet, dass die Arbeitsplätze von der öffentlichen Hand gefördert werden, damit betroffene Menschen für den ersten, regulären Arbeitsmarkt qualifiziert werden. Die Betroffenen sind zwischen drei Monaten und einem Jahr in dem Programm, danach müssen sie von einem privatwirtschaftlichen Unternehmen übernommen werden. Es besteht auch die Möglichkeit, danach eine Lehre zu machen. Die Radstation finanziert sich über Fördergelder des Arbeitsmarktservices (AMS) und Eigenerlöse. „Das Geschäft funktioniert nur, wenn Kunden zu uns kommen. Jeder, der zu uns kommt, wirkt damit Langzeitarbeitslosigkeit entgegen“, betont Lena Pieber. Sie leitet seit sechs Jahren die Radstation.

Von der Werkstatt bis zur Reinigung

In der Radstation werden die Mitarbeiter:innen in sechs verschiedenen Bereichen qualifiziert. In der Werkstatt, im Fahrrad-Shop, in der Verwaltung, am Info-Point, im Lager und in der Reinigung. Wilfried R. arbeitet im Lager und ist damit die Schnittstelle zwischen Lieferung und Verkauf. Er ist verantwortlich für Annahme der gelieferten Ware, die Kontrolle und die ordnungsgemäße Aufnahme in die Lagerverwaltung. „Ich habe selbst ein Fahrrad und bin an technischen Dingen interessiert. Daher war es leicht für mich, mich einzuarbeiten“, lässt er wissen.

Langzeitbeschäftigungslosigkeit hat verschiedene Gründe

Im Februar 2023 waren 76.110 Personen als langzeitarbeitslos registriert. Das sind all jene Menschen, die ein Jahr oder länger ohne Job sind. Die Zahl der Langzeitbeschäftigungslosen sinkt zwar seit einiger Zeit, dennoch bleibt ihr Anteil unter den Arbeitslosen hoch. Im Februar waren über 294.000 Menschen beim AMS als arbeitslos gemeldet. Die Gründe für Langzeitbeschäftigungslosigkeit sind verschieden. Ein häufiges Problem ist, dass Betroffene ihre Kompetenzen schwer aufrechterhalten können, wenn sie länger vom Arbeitsmarkt abwesend sind. Zudem verlieren sie oft ihre beruflichen Netzwerke, die allerdings wichtig sind, um einen Job zu finden. Die Probleme nur bei den Betroffenen zu suchen, greift aber zu kurz. Dass sich Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt, hat in vielen Fällen auch mit den Unternehmen zu tun. Bewerber:innen, die länger als zehn Monate keiner Erwerbsarbeit nachgehen, werden weniger oft von Unternehmen zurückgerufen, als jene, die kürzer oder gar nicht arbeitslos sind. Langzeitbeschäftigungslosigkeit kann zwar alle treffen, betrifft aber manche Gruppen überdurchschnittlich häufiger: Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen, mit geringer formaler Bildung und ältere Menschen.

Wilfried R. ist 60 Jahre alt. Er vermutet, dass das auch der Grund ist, wieso er am ersten Arbeitsmarkt keinen Job mehr gefunden hat. Über die Plattform Karriere.at wurde er zwar mehrmals von Personalbüros angeschrieben, nachdem diese aber sein genaues Alter erfahren haben, hat er nichts mehr von ihnen gehört. „Das ist mir mehrfach passiert“, lässt er wissen. Arbeitgeber:innen bevorzugen oft jüngere Bewerber:innen, da diese erstens günstiger sind, weil sie weniger Erfahrung haben, und zweitens noch länger im Berufsleben sind.

„Die Abweisung und das Gefühl, nichts wert zu sein, macht etwas mit den Menschen.“

Arbeitslosigkeit ist für Betroffene ein großer Stressfaktor. Sie haben weniger Geld zur Verfügung, wodurch es nicht nur schwieriger wird, die Miete, Rechnungen und Lebensmittel zu bezahlen, sondern auch um am sozialen Leben teilzunehmen. Sie haben oft mit Stigmatisierung zu kämpfen, was wiederum an ihrem Selbstvertrauen nagt. „Die Abweisung und das Gefühl, nichts wert zu sein, macht etwas mit den Menschen. Wir geben ihnen in der Radstation das Gefühl, etwas wert zu sein. Das hält aber oft nicht lange an, wenn sie wieder weg sind“, sagt Lena Pieber.

Probleme gemeinsam lösen

Für viele Mitarbeiter:innen gibt es neben der Arbeitslosigkeit auch noch weitere Probleme. Zum Beispiel Wohnungssuche, Schulden, Sucht und familiäre Schwierigkeiten. „Die Thematiken, die die Menschen heute beschäftigen, sind viel komplexer als noch vor 20 Jahren“, betont Lena Pieber, die seit fast zwei Jahrzehnten in diesem Bereich tätig ist. Je länger die Betroffenen keine Erwerbsarbeit haben, desto schwieriger ist es, sie wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Sie sind weniger belastbar und brauchen mehr Betreuung. Vielen fällt es auch schwer, Perspektiven zu erkennen und zu verfolgen. Sie erkennen nicht, was ihnen der Job in zwei Jahren bringt, zum Beispiel Stabilität, die Teilnahme am sozialen Leben und bessere finanzielle Mittel. Oftmals überlagern sich mehrere Probleme gleichzeitig.

Die Radstation unterstützt sie dabei, bestehende Probleme zu lösen. Dafür arbeitet sie mit Beratungsstellen zusammen, vermittelt Wohnungssuchende an Wiener Wohnen, hilft dabei, Kinderbetreuung zu organisieren und hat eine eigene Schuldner:innenberatung im Haus. „Es gibt Menschen, die es aus unterschiedlichen Gründen wie niedriger Bildung, Orientierungslosigkeit oder psychischer Beeinträchtigung nicht aus eigener Kraft schaffen“, betont Lena Pieber. Denn: „Der Mitarbeiter kann nur Leistung bringen, wenn es ihm gut geht.“ Ein weiterer Vorteil von sozialen Unternehmen ist, dass dort viele Menschen mit ähnlichen Erfahrungen aufeinandertreffen. Sie können sich untereinander austauschen, ihre Situation und Ängste thematisieren und sich gegenseitig motivieren. Sie sind mit ihrem Leid nicht allein. „Es ist nicht beschämend und nicht peinlich, arbeitslos zu sein“, hält Pieber fest.

Begleitung zu Vorstellungsgesprächen

Mindestens 40 Prozent der Mitarbeiter:innen müssen erfolgreich an ein Unternehmen am ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden. Der Radstation gelingt es oft auch, mehr Menschen zu vermitteln. Sie begleiten die Mitarbeiter:innen zu Vorstellungsgesprächen und sprechen mit den Führungskräften dort auf Augenhöhe. „Das hilft Menschen, die unsicher sind“, meint Lena Pieber. In dieser Begleitung sieht sie auch den Grund, warum so viele Überlassungen erfolgreich sind. Im neuen Job müssen sie sich dann aber selbst beweisen. Wilfried R. hat sich bereits bei Unternehmen vorgestellt, ist aber noch auf der Suche.

Über die/den Autor:In

Nicole Frisch
Nicole Frisch
Nicole studiert Politikwissenschaft und Internationale Entwicklung an der Universität Wien. Das Ziel: Die Weltpolitik verstehen – und das Verstandene mit möglichst vielen Menschen teilen. Ihren Weg in den Journalismus hat sie über die NÖN gefunden. Ihre Schwerpunkte sind soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Migration und Vergangenheitspolitik.

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