In der Parklücke gemeinsam mit der Freundin Kuchen essen? Auf der Fahrbahn zum Lieblingslied tanzen? Oder neben einer Baumscheibe die Füße in einem Planschbecken abkühlen? Das alles geht. Und zwar in Wohnstraßen. Wissen tun das aber die Wenigsten.
Es ist ein Verkehrskonzept, das heuer seinen 40. Geburtstag feiert – und trotzdem sind Wohnstraßen kaum bekannt. „Viele wissen nicht, was man auf einer Wohnstraße darf und was nicht“, sagt Brigitte Vettori. Sie ist Initiatorin von „space and place“, einer Stadt- und Kulturinitiative, die seit 2018 zeigt, welches Potential in Wohnstraßen steckt.
Erforschen, wie Wohnstraßen genutzt werden
Zum Beispiel mit dem Format #wohnstrassenleben. In der Lambertgasse im 16. Wiener Bezirk wurden unter anderem Liegestühle in Parklücken gestellt, mit Straßenkreiden auf die Fahrbahn gemalt und Schach gespielt. Aktionen wie diese hat „space and place“ schon öfter gemacht. Bei den #wohnstrassenleben geht es nun aber darum, zu erforschen, wie Wohnstraßen von den Menschen genutzt werden und mit welchen Methoden unterstützt werden kann, dass sich diese Straßen zu Aufenthaltsräumen entwickeln. In dem zweijährigen EU-Projekt StreetForum wird der öffentliche Raum in Wien, Brüssel, Stockholm und Istanbul beforscht. Die zentralen Fragen: Wie kann man den urbanen Straßenraum für Menschen öffnen und unterschiedliche Interessen verhandeln?
Interessen ausverhandeln
Denn um genau das geht es auf Wohnstraßen: das Ausverhandeln unterschiedlicher Interessen. Spielt man in einer Parklücke gerade Uno, wenn jemand verzweifelt einen Platz für sein Auto sucht, wird man versuchen, gemeinsam eine Lösung zu finden. „Teilen und gemeinsam etwas definieren, schauen, ob ich den anderen störe. Das ist schon ein Konzept, dass nicht so leicht zum Durchdenken und Praktizieren ist“, meint Hilda Tellioğlu von der TU Wien. Sie ist neben der Initiative „space and place“ und dem Architekten Alain Tisserand am Forschungsprojekt „StreetForum“ in Wien beteiligt.
- Was ist eine Wohnstraße? Das Konzept der Wohnstraßen stammt ursprünglich aus den Niederlanden. Anwohner:innen haben dort in den 1970er Jahren für mehr Platz und einen sicheren Weg zu ihrem Haus gekämpft. Seit 1983 gibt es Wohnstraßen auch in Österreich. Man darf die Straße betreten und dort spielen. Fahrzeuge dürfen nicht durchfahren, lediglich mit einer Geschwindigkeit von maximal fünf km/h zu- und abfahren. Mit dem Fahrrad darf man in Wohnstraßen auch gegen die Einbahn fahren.
Freundlich sein zu Autofahrer:innen
Jede:r soll die Wohnstraße so nutzen, wie er:sie möchte, aber so, dass niemand anderes dadurch gestört wird. „Wir versuchen, gegenüber Autofahrer:innen freundlich aufzutreten. Wir sagen nicht: Was wollen Sie da? Diesen Parkplatz wollen unbedingt wir nutzen. Das bringt nichts. Es geht darum, soziale Räume zu schaffen“, betont Vettori.
„Es geht darum, dass die Leute die Straße regelmäßig für sich nutzen. Statt irgendwo hinzugehen, die Straße zum erweiterten Wohnzimmer machen.“
Es braucht also eine Wohnstraßenkultur. Dass diese noch fehlt, darin sind sich Vettori und Tellioğlu einig. „Es geht darum, dass die Leute die Straße regelmäßig für sich nutzen und nicht nur ihre Autos dort parken. Dass die Wohnstraße einfach belebt wird, dass man sich traut, draußen zu sein und etwas zu unternehmen. Statt irgendwo hinzugehen, die Straße zum erweiterten Wohnzimmer machen. Ich glaube, das Bewusstsein haben wir noch nicht so ganz“, hält Tellioğlu fest.
Schlichte Aktionen, die zum Nachahmen anregen sollen
Mit #wohnstrassenleben zeigt „space and place“, was auf Wohnstraßen alles möglich ist. Vor einem Pensionist:innen-Wohnheim haben sie zum Beispiel einen Rollatorparcours organisiert. Die Teilnehmer:innen bezeichneten ihre Rollatoren als Ferraris und Audis, die älteste Teilnehmerin war 101 Jahre alt. Die Stadtinitiative hat auch einmal Musiker:innen aus ihren Proberäumen geholt, damit diese auf Wohnstraßen üben. Die Aktionen werden absichtlich schlicht gehalten, damit sie von den Menschen einfach nachgemacht werden können. „Wir tun das, was jeder jeden Tag tun darf – und übertreiben manchmal“, sagt Vettori. Sie wünscht sich zudem, dass in jedem Haus ein Tisch und ein paar Sessel zur Verfügung stehen, damit Anwohner:innen diese nur nehmen und spontan auf die Wohnstraße stellen können.
Jugendliche als Chance
Eine große Chance für die Entwicklung eine Wohnstraßenkultur sieht Vettori in Jugendlichen. „Wenn Jugendliche wissen, dass es den Möglichkeitsraum Wohnstraße gibt, den man auf unterschiedliche Weise nutzen kann, sind das vielleicht die ersten, die es schaffen, Tische und Stühle runterzustellen und sich hinzusetzen“, meint sie. Gleichzeitig sei diese Gruppe aber auch besonders schwierig zu erreichen.
Autofahrer:innen müssen langsam fahren
Damit eine Wohnstraßenkultur entstehen kann, ist es aber nicht nur wichtig, dass die Menschen die Straßen nutzen, sondern auch, dass sich Autofahrer:innen der Straßenverkehrsordnung entsprechend verhalten. Viel zu oft fahren sie mit 30 km/h und mehr durch die Wohnstraße und nutzen diese als Abkürzung. Für die Wohnstraßen-Nutzer:innen stellt das ein Sicherheitsrisiko dar. Durchfahrt ist verboten. Man darf nur zufahren, wenn man parken möchte, jemanden abholt oder etwas liefert.
Nachbar:innen lernen sich besser kennen
Fahren Fahrzeuge langsamer, können sich die Nachbar:innen besser kennenlernen. Man kann nämlich die Straßenseite einfach queren und muss nicht bis zum nächsten Zebrastreifen gehen. „In Barcelona bei den Superblocks habe ich mit einer Nachbarschaftsorganisation gesprochen. Einer hat erzählt, dass er früher nur fünf Minuten zum Supermarkt gegangen ist. Seit er in einem Superblock wohnt, braucht er mindestens 20 Minuten zum Supermarkt, weil er mit so vielen Nachbarn und Nachbarinnen redet, die sich auf den verkehrsberuhigten Straßen bewegen“, erzählt Vettori. In einem Superblock sind jeweils neun benachbarte Häuserblocks zusammengefasst. Wie bei Wohnstraßen dürfen auch dort Fahrzeuge nicht durchfahren und Fußgänger:innen haben Vorrang.
Bei „space and place“ weiß man: Es braucht viel Zeit, bis die Menschen selbst etwas auf den Wohnstraßen machen. Im 15. Bezirk in der Nähe von der Wiener Stadthalle befinden sich sieben Wohnstraßen nebeneinander. 2020 hat „space and place“ die Gegend daher zum ersten Wiener Wohnstraßengrätzel ernannt. Dort befindet sich auch das Büro der Initiative, weswegen die Anwohner:innen schon mehr Erfahrungen mit deren Aktionen haben. Nun hat dort jemand seinen 40. Geburtstag auf der Wohnstraße gefeiert. „Aber es ist nach wie vor nicht so, dass jeder jeden Tag runtergeht und die Wohnstraße nutzt“, erzählt Vettori.
Politik muss unterstützen
Dafür brauche es auch Unterstützung von politischer Seite. Von der Stadt Wien wünscht sich Vettori eine Kampagne, die dazu aufruft, Wohnstraßen im Alltag zu nutzen. Auch die Umgestaltung von Wohnstraßen mit Sitzgelegenheiten, Brunnen und mehr Grün wäre wesentlich. Aber auch jede:r Einzelne kann sich einbringen. Einfach, indem er:sie die Wohnstraße vor der eigenen Haustüre oder in der Nähe nutzt. Sich dort mit Freund:innen trifft, ein Buch im Schatten eines Baumes liest oder in einem Liegestuhl entspannt. Nutzen wir die Wohnstraße, denn dafür ist sie da. Die Wohnstraße gehört uns.