Buchtipp: Das Fluchtparadox

Flucht ist ein paradoxer Vorgang. Menschen müssen ihre Heimat verlassen, obwohl sie nicht wollen. Sie müssen illegal Grenzen überqueren, weil sie sonst nicht um Asyl ansuchen können. Sie müssen sich integrieren, das führt dann aber erst wieder zu Reibereien. In ihrem Buch „Das Fluchtparadox“ zeigt Judith Kohlenberger diese Widersprüche auf – und will damit den Weg zu einem menschlicheren Umgang mit Flucht ebnen.

Menschen auf der Flucht müssen Recht brechen, um zu ihrem Recht auf Asyl zu gelangen. Sie müssen arm und traumatisiert, gleichzeitig aber auch leistungsbereit sein. Klingt paradox? Ist es auch. Der Umgang europäischer Staaten mit Geflüchteten strotzt nur so von Widersprüchen. Das legt Migrationsforscherin Judith Kohlenberger in ihrem Buch „Das Fluchtparadox“ offen. Von Kapitel zu Kapitel zeigt sie unzählige Widersprüche des aktuellen Asyl- und Migrationsregimes auf und will damit den Weg zu einem anderen Umgang mit Geflüchteten ebnen.

Paradox vom Anfang bis zum Schluss

Das titelgebende Fluchtparadox erfahren Geflüchtete vom Anfang bis zum Schluss:  Von der Ausreise aus dem Heimatland über den Asylantrag bis hin zur Integration im Aufnahmeland. Die Zwischenziele der Flucht sind laut Kohlenberger geprägt von drei paradoxen Momenten:

  • Asylparadox: Es fehlen legale Fluchtwege. Deshalb müssen Menschen auf der Flucht durch illegale Grenzübertritte zuerst Recht brechen, um zu ihrem Recht auf Asyl zu gelangen.
  • Flüchtlingsparadox: Die sogenannte Aufnahmegesellschaft hat ein sehr konkretes Bild von Geflüchteten. Sie müssen arm und schutzbedürftig, gleichzeitig aber auch leistungsbereit und selbstständig sein.
  • Integrationsparadox: Von den Geflüchteten wird zwar vehement gefordert, sich zu integrieren. Erfüllen sie diesen Anspruch, entstehen aber neue Reibungspunkte mit der sogenannten Aufnahmegesellschaft. Dabei geht es um Verteilung, Aufstieg und Sichtbarkeit.

Kohlenberger arbeitet diese paradoxen Momente anhand aktueller und historischer Beispiele heraus. Unter anderem mit dem Ukraine-Krieg. In Österreich sind sich Politik und Gesellschaft schnell einig gewesen, dass Ukrainer:innen Schutz brauchen. Da der Begriff des Flüchtlings in der Vergangenheit derart kriminalisiert wurde, hat man für sie einen Begriff gesucht, um sie von jenen Geflüchteten, die als nicht willkommen gelten, zu unterscheiden. Aus ihnen wurden also Vertriebene, und damit ein Unterschied konstruiert.  „‚Flüchtlinge‘ wurden aus Syrien vertrieben und ‚Vertriebene‘ sind aus der Ukraine geflohen – oder wahlweise umgekehrt, denn die Bedingungen ihrer Ausreise sind in beiden Fällen solche der Unfreiheit, der Unfreiwilligkeit und des Zwangs“, schreibt Kohlenberger.

Verantwortlichkeit einfordern

Die Migrationsforscherin spürt auf 186 Seiten nicht nur die Probleme des aktuellen Asyl- und Migrationsregimes auf. Sie räumt mit Mythen auf, wie jenem, dass Flucht auch freiwillig erfolgen kann. Flucht erfolgt immer unter Zwang. Und sie bietet Lösungswege an. Im Fall unsicherer Fluchtwege zum Beispiel: die Möglichkeit, bereits in der Botschaft des Aufnahmelandes um Asyl anzusuchen, und die dauerhafte Aufnahme vulnerabler Personen über Resettlement-Programme.

„Das Fluchtparadox“ regt die Leser:innen aber auch zum Nachdenken und Hinterfragen an. Denn gleich im Vorwort stellt Kohlenberger klar, dass Grund- und Menschenrechte für alle gelten müssen: „Schutzsuchende, Marginalisierte und Minderheiten erfüllen in westlichen Demokratien deshalb die Funktion eines Kanarienvogels in der Kohlemine, der Bergleute vor einem drohenden Sauerstoffverlust warnte: Bleibt ihnen die Luft weg, weil man ihnen Grund- und Menschenrechte verwehrt, so wird es auch für uns bald brenzlig werden.“ Eine menschliche Asyl- und Migrationspolitik ist aber möglich. Nämlich dann, wenn jede:r Einzelne Verantwortung übernimmt. Und Kohlenberger liefert mit ihrem Buch die notwendigen Informationen und damit das Wissen, um die Verantwortlichkeit von Entscheidungsträger:innen einfordern zu können.

Es gibt auch einen Lichtblick im Buch: Sowohl der Fluchtherbst 2015 als auch der Frühling 2022 haben gezeigt, dass die Asylpolitik menschlich sein kann. Dass Abschottung, Abschreckung und Auslagerung nicht sein müssen, sondern eine Willkommenskultur möglich ist.

„Das Fluchtparadox“ ist im August 2022 im Verlag Kremayr & Scheriau erschienen.

Über die/den Autor:In

Nicole Frisch
Nicole Frisch
Nicole studiert Politikwissenschaft und Internationale Entwicklung an der Universität Wien. Das Ziel: Die Weltpolitik verstehen – und das Verstandene mit möglichst vielen Menschen teilen. Ihren Weg in den Journalismus hat sie über die NÖN gefunden. Ihre Schwerpunkte sind soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Migration und Vergangenheitspolitik.

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