Unsere Lebensräume verarmen, viele Arten von früher gibt es heute nicht mehr. Doch Wildblumen-Expertin Karin Böhmer glaubt daran: Die allermeisten Pflanzenarten können wir wieder zurückholen. Sie kämpft gegen das Artensterben – mit einem Betrieb, der in seiner Art einzigartig ist. Wir haben sie einen Tag lang begleitet.
Ein sonniger Vormittag im südlichen Waldviertel. Naturschutzexpertin Karin Böhmer bindet sich alte Polsterüberzüge an den Gürtel, schnappt ihre Gartenschere und schon geht es zu einer ihrer Sammelflächen. Auf einem kleinen Fleckchen Wiese können über hundert Pflanzenarten wachsen – eine enorme Vielfalt im Vergleich zu anderen Flächen. Diese werden in den Sommermonaten gesammelt und später getrocknet, um sie woanders wieder aussäen zu können.
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Heimische Wildpflanzen locken Insekten, Vögel und weitere Tiere an und fördern die Artenvielfalt enorm. Das ist wichtig, denn unsere Natur steht massiv unter Druck – ein Drittel aller Pflanzen- und Tierarten sind weltweit vom Aussterben bedroht. Jedoch müsste keine weitere Art verloren gehen, wenn wir aktiver werden. Es gibt nämlich sehr viele Flächen, wo Platz für neue Vielfalt wäre. Von Straßen- und Bahnbegleitflächen über Dachbegrünungen bis hin zu Wasserrückhalteflächen und Blühflächen für Landwirt:innen ist alles möglich.
Seit über 40 Jahren sammelt Karin Böhmer gemeinsam mit ihren Mitarbeiter:innen Wildblumensamen, um damit wieder neue Lebensräume anzulegen. Dafür gehen sie auf ökologisch wertvolle Flächen in ganz Österreich und „ernten“ die reifen Wildblumen – von rund 1000 verschiedenen Arten. Im Anschluss werden die Samen aus der Pflanze geholt, gereinigt und getrocknet, um dann für die jeweilige Region und das entsprechende Pflegeregime individuell zusammengemischt zu werden. Auch die zunehmende Wärme und Trockenheit werden bei der Zusammenstellung der Mischungen berücksichtigt. Ihre Kund:innen können also Samenmischungen bestellen, die perfekt auf den jeweiligen Standort zugeschnitten sind. So wird sichergestellt, dass die Samen nur auf Flächen kommen, auf denen sie auch wachsen können – ein wichtiger Beitrag zum Naturschutz und der Förderung regionaler Vielfalt.
Wir brauchen intakte Natur
Auf unseren Wiesen nimmt die Vielfalt rasant ab. Selbst früher weit verbreitete Arten wie die Margerite oder der Wiesensalbei werden immer seltener. Das liegt vor allem an Versiegelung, intensiver Bewirtschaftung und Überdüngung und bringt unsere Ökosysteme aus der Balance. Dabei ist eine intakte Natur ein wichtiger Schutz gegen die negativen Auswirkungen der Klimakrise.
Die in ganz Österreich verteilten Flächen, auf denen Karin Böhmer und ihre Mitarbeiter:innen sammeln, sind zum Großteil gepachtet. Einige sind auch öffentliche Flächen, auf denen sie sammeln dürfen; für manche haben sie eigene Nutzungsübereinkommen.
Die Wiesen sind Teil der Kulturlandschaft und müssen gepflegt werden. Denn sonst wachsen sie zu und werden früher oder später zu Wald. Die Bewirtschaftung ist jedoch oftmals mühsam und bringt wenig monetären Ertrag im Vergleich zu Futterwiesen oder Waldwirtschaft, weshalb in vielen Regionen Österreichs immer mehr Wiesen zu Monokulturen werden. Denn Landwirt:innen, die generell schon stark unter Druck stehen, haben oftmals keine Zeit für die arbeitsintensive Pflege. Viele von ihnen sind mittlerweile jedoch gute Kund:innen des Betriebs und stellen ihre Blühwiesen zur Verfügung, weil sie zu schätzen wissen, wenn wieder mehr Vielfalt in die Ackerlandschaft kommt. Durch Karin Böhmers Arbeit entstehen also nicht nur neue artenreiche Wiesen, sondern es werden auch bestehende Flächen erhalten. Sie arbeitet sehr naturnahe und beweidet die Flächen auch mit Pferden, Ziegen und Schafen.
Zu den größten in den letzten Jahren von Karin Böhmer begrünten Flächen gehören etwa die Dammbegrünungen an der March und der Donau. Die überwiegende Anzahl ihrer Kund:innen sind jedoch Privatpersonen, teilweise auch nur mit kleinen Flächen im Garten oder Dachflächen und Balkonkästchen. Ebenso gibt es Leute mit speziellen Wünschen, was einzelne Pflanzenarten anbelangt.
Die Ungeduld der Menschen
Eine der größten Hindernisse bei Karin Böhmers Arbeit ist, dass es in manchen Landschaften keine oder nur mehr sehr wenige artenreiche Sammelflächen gebe. Beispielsweise im Alpenvorland.
Die eigentlich noch größere Hürde ist aber die Ungeduld der Menschen. Wildblumen wachsen oft sehr langsam und verzögert, manche sieht man tatsächlich erst nach Jahren bis Jahrzehnten nach der Aussaat. Diese Zeitspanne überfordere viele Leute. Oft bekommt Karin Böhmer Anrufe von besorgten Kund:innen, die wissen wollen, ob da etwa ein Fehler unterlaufen sei. „Wir haben verlernt, Geduld mit der Natur zu haben“, meint sie dazu.
Zusätzlich herrsche sehr viel Erklärungsbedarf. Das Wissen um die Natur und deren Vorgänge nimmt ständig ab. Selbst bei Menschen mit entsprechenden Ausbildungen. Laut Karin Böhmer sei vielen nicht bewusst, was Vielfalt überhaupt bedeute. Es würden sehr leichtfertig Flächen ruiniert werden, wo es nicht notwendig wäre – zum Beispiel bei Verkehrsflächen oder Siedlungsgebieten. Oder wenn im Garten die Blumen nicht bestehen bleiben dürfen, weil der Rasenroboter über alles hinweg fährt.
Dabei gehe es auch um eine Frage der Wahrnehmung. Sie betont: „Jede:r von uns kann etwas tun, indem wir die Vielfalt einfach ein bisschen bewusster wahrnehmen.“
Die Arbeit lohnt sich
Bereits als Jugendliche hat Karin Böhmer mitbekommen, dass die Lebensräume um sie herum verarmen. Diese Erfahrung hat sie geprägt. Später hat sie Landwirtschaft an der Universität für Bodenkultur studiert und währenddessen in der Landschaftsplanung gearbeitet. Bei der Planung von Blumenwiesen ist ihr bewusst geworden, dass es keine heimischen Blumensamen zu kaufen gibt. Zeitgleich ist sie ins Waldviertel gezogen und hat gesehen, dass rundherum lauter schöne Blumenwiesen sind. In ihrem Kopf reifte somit eine Idee heran: Die Blumensamen selbst sammeln und damit neue Wiesen anlegen.
Die Leidenschaft für das Sammeln und die Vielfalt ist im Gespräch mit Karin Böhmer sehr spürbar. Ebenso ihr Optimismus. Sie ist überzeugt davon, dass wir alle Wildblumen wieder ansiedeln könnten, sogar die ganz seltenen. Dabei sei auch sie immer wieder von der Natur überrascht worden: Selbst, wenn man nur wenige Samen an den richtigen Standort bringe und ihnen Zeit gebe, würden die Arten wiederkommen. Begeistert erzählt sie von einem besonderen Fall: „Vor 20 Jahren haben wir ein Gewerbegebiet begrünt, unter anderem mit ein paar Samen vom Kreuzenzian – eine bei uns mittlerweile wirklich seltene Art. Und jetzt haben wir einen wunderschönen kleinen Kreuzbestand dort entdeckt.“ Solche Beispiele von der erfolgreichen Wiederansiedelung von seltenen Arten geben ihr Hoffnung.
Was die Politik tun kann
Mit dem Verschwinden der landschaftlichen Vielfalt nehme gleichzeitig die Aufmerksamkeit für die Probleme wieder zu. Manche Gemeinden nehmen ihre Verpflichtung, die Biodiversität zu fördern, schon länger ernst und bestellen seit Jahren bei Karin Böhmer. Ihre Hoffnung ist, dass das Interesse der Behörden auch durch das Renaturierungsgesetz zunehmen wird. „Wenn sie das Gesetz ernst nehmen, werden sie über Gruppen wie uns nicht hinwegkommen. Wir müssen viel aktiver werden und ohne Sammeln wird es nicht gehen“, so Karin Böhmer.
Generell wünsche sie sich von politischer Seite eine bessere Zusammenarbeit. Die Politik sollte alle an einen Tisch bringen und zum Dialog anregen: die Länder, die Gemeinden, die Verwaltung, die Behörden, Betriebe wie den ihren. Aktuell laufe noch sehr viel gegeneinander, selbst innerhalb der NGOs, die sich für Naturschutz interessieren. Am Wichtigsten ist es laut Karin Böhmer, miteinander zu reden, sich abzustimmen und nicht die gleichen Schienen mehrfach zu bedienen. Dass alle Akteur:innen sich zusammensetzen, kann mühsam sein. Aber im Endeffekt sei es der einzige Weg, wie es wirklich funktionieren kann.
Handsammlung und Vermehrung am Feld
In Österreich gibt es neben Karin Böhmers Betrieb circa 30 weitere Fachbetriebe, die ähnliche Arbeit leisten. Zusammen bilden sie das REWISA-Netzwerk für Naturnahes Grün. Der Großteil der anderen Betriebe sammelt jedoch nicht selbst, sondern kauft das Saatgut zu und vermehrt dieses dann am Feld. Der Vorteil von dieser Vermehrungsart ist, dass man schneller sehr große Mengen erzielen kann. Das ist vor allem für bestimmte Mengenarten wichtig, die in einer Wiese tausendfach vorkommen, denn dabei könne der Bedarf schwer mit der Handsammlung gedeckt werden.
Der Nachteil dabei: Diese Vermehrungsart sei meist nicht biologisch, da jede Monokultur betreuungsintensiv ist und Herbizide eingesetzt werden müssen. Außerdem lassen sich nicht alle Arten feldmäßig vermehren. Es wäre also sehr wichtig, dass noch mehr Leute mit der Hand sammeln würden.
Selbst aktiv werden
Im Laufe der Jahre hat Karin Böhmer ihr Sortiment immer mehr erweitert und neue Sammelregionen hinzugenommen. Dennoch betont sie im Gespräch, dass es unbedingt noch mehr Sammler:innen brauche. Es gibt viele Regionen, wo Karin Böhmer und ihre Mitarbeiter:innen nicht hinkommen – weil sie zu weit weg sind oder ihnen schlichtweg die Kapazitäten fehlen. Zum Beispiel in den südlichen Alpenvorländern, also Steiermark und Südburgenland. Oder für die westlichen Kalkalpen und die Zentralalpen. Ein wichtiger Teil von Karin Böhmers Arbeit ist also auch die Ausbildung weiterer Sammler:innen.
Das Sammeln kann jede:r bei ihr lernen und dann in der eigenen Region umsetzen. Die Tätigkeit sei an sich nicht schwierig. Man muss die Fläche finden, wo die Pflanzen wachsen, diese sammeln und wieder auf geeignete neue Fläche bringen. Das sind alles einfache Vorgänge, für die man laut Karin Böhmer kein besonderes Wissen oder spezielle Ausstattung brauche – außer ein paar alten Polsterüberzügen, einer Schere und natürlich Geduld. Das Ganze zahle sich laut Karin Böhmer auch finanziell aus.
Die vielfältigsten Lebensräume unserer Landschaften
Als Wildpflanzen werden jene Pflanzen definiert, die bereits vor der Entdeckung Amerikas bei uns gewachsen sind, beziehungsweise alle natürlich auftretenden, im Gegensatz zu den Kulturpflanzen nicht durch menschliche Pflanzenzüchtung genetisch veränderten Pflanzenarten.
Wildblumenwiesen sind die vielfältigsten Lebensräume unserer Landschaften. Es handelt sich dabei um sehr alte Ökosysteme, die teilweise seit über 1000 Jahren bestehen. Der Boden unter solchen Wiesen ist sehr dicht und tief bewurzelt, was auch zum Erosionsschutz sowie der Reinigung und Speicherung von Wasser beiträgt. Die Wiesen haben sich mit der menschlichen Bewirtschaftung mitentwickelt und sind durch ihre Vielzahl an Pflanzenarten sehr robust gegenüber Klimaschwankungen. So sind in einem feuchten Jahr bestimmte Arten stärker, in einem trockenen Jahr wieder andere. Der Bestand bleibt jedoch insgesamt stabil. Denn die allermeisten der Pflanzen sind ausdauernde Arten, die auch bei schlechten Bedingungen erhalten bleiben. So bekommt Karin Böhmer von ihren Sammelflächen zwar nie das Gleiche in der gleichen Menge, aber dennoch immer genug.
Endlich Umdenken
Vielfalt ist eine Voraussetzung dafür, dass unsere Ökosysteme funktionieren. Dabei geht es um so viele Faktoren – Luft- und Wasserreinhaltung, Bodengesundheit, Lebensmittelsicherheit, Vielfalt von anderen Lebewesen, Erosionsschutz, grüner Erholungsraum.
„Wir brauchen einfach viel Leben um uns herum. Wildpflanzen spielen eine wichtige Rolle für die gesunde Erhaltung unserer Ökosysteme. Das ist entscheidend für uns Menschen – am Land, aber auch in den Städten“, fasst Karin Böhmer zusammen.
Im Hinblick auf die vielen Krisen unserer Zeit fühlen sich viele oft machtlos. Ohne Wildblumen bleiben die Insekten aus, der Anbau von Obst und Gemüse wird zunehmend schwieriger. Viele Gegenden haben bereits keine Blumen mehr. Doch Karin Böhmer zeigt, dass wir alle etwas tun können. Sei es, bei der Pflege von Flächen mitzuhelfen, die eigene Wiese ein bisschen mehr wachsen zu lassen oder sogar selbst zu sammeln, auch im kleinen Umfang. Jede:r kann etwas bewirken und sich für ein Umdenken einsetzen – für Naturschutz und mehr Vielfalt auf unseren Wiesen.